Alice. Eine phantastische Revue – zu sehen im Odeon Theater

Alice - Eine phantastische Revue - Generalprobe. (Foto Hedi Grager)Noch bis zum 31. Dezember ist „Alice. Eine phantastische Revue“ im Odeon Theater zu sehen. Sie zeigt charakteristische Szenen aus Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass, and What Alice Found There für ein Ensemble aus 24 Instrumentalisten, sieben Solisten und die fabelhafte Truppe des Serapions Theaters, das gemeinsam mit dem sirene Operntheater diese große Uraufführung von Kurt Schwertsik (Musik) und Kristine Tornquist (Libretto) auf die Bühne bringt.

Auf Einladung durfte ich bei der beeindruckenden Generalprobe dabei sein. Es war schön, meine Freundin, die aus Kalifornien stammende Mezzosopranistin Solmaaz Adeli mit ihrem großartigen, drei Oktaven umfassenden Stimmumfang, wieder zu sehen und zu hören. 

Solmaaz Adeli, Mezzosopranistin, hat einen Stimmumfangs von drei Oktaven und eine unglaublich starke Bühnenpräsenz. Ihr Repertoire umfasst Werke vom Barock bis zur zeitgenössischen Musikliteratur. Im Bild mit Hedi Grager (li), www.hedigrager.com. (Foto Reinhard Sudy)
Solmaaz Adeli, Mezzosopranistin, hat einen Stimmumfangs von drei Oktaven und eine unglaublich starke Bühnenpräsenz. Ihr Repertoire umfasst Werke vom Barock bis zur zeitgenössischen Musikliteratur. Im Bild mit Hedi Grager (li), www.hedigrager.com. (Foto Reinhard Sudy)

Der Kampf im Wunderland dreht sich um Schicklichkeit, die Waffe ist das Wort. Die berühmte blaue Raupe, die Herzkönigin, der zeitlose Hutmacher, die geschwätzigen Blumen und andere erstaunliche Figuren reißen im Wortwechsel mit Alice stets die Deutungshoheit an sich. Ihre Logik deckt sich zwar nicht mit dem Hausverstand, und sie haben auch nicht Recht, dafür aber das Sagen und damit die Macht, Alice den wunderlichsten Benimmregeln zu unterwerfen – Benimmregeln wie im viktorianischen England, unter denen der Mathematiker Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll zeitlebens litt. Doch über diesen gesellschaftskritischen Aspekt hinaus sind seine beiden Alice-Bücher das Werk eines begnadeten Spielers, der mit Logik und Unlogik jongliert und daraus den tiefsten Widersinn und das höchste Vergnügen destilliert.

«Lewis Carroll als Verfasser der Lyrics zu haben, war einer der Gründe, mich in diese Welt zu vertiefen: Die Gedichte aus den Alice-Erzählungen haben mich schon beschäftigt, als ich noch kaum Englisch verstand.» (Kurt Schwertsik)

Alice - Eine phantastische Revue - Generalprobe. Der Komponist und Musikpädagoge Kurt Schwertsik (re im Bild) ist eine schillernde Figur im Wiener Musikleben und hat einen Ruf als einer der führenden Komponisten Österreichs erlangt. (Foto Hedi Grager)
Alice – Eine phantastische Revue – Generalprobe. Der Komponist und Musikpädagoge Kurt Schwertsik (re im Bild) ist eine schillernde Figur im Wiener Musikleben und hat einen Ruf als einer der führenden Komponisten Österreichs erlangt. (Foto Hedi Grager)

Kurt Schwertsik – Musik für Alice 
Aus den selbstverständlich geltenden Regeln & Gewohnheiten des Alltäglichen, gerät Alice in das fragwürdige Gebiet der Philosophie, die sich von ihrer absurden Seite zeigt. 
Alice quält sich durch allerlei groteske Situationen, um schließlich zu begreifen, dass sie sich einzig & allein auf ihre Wahrnehmung verlassen muss & erkennt, dass sie nur von Papiertigern bedroht wird.
Auch ich fühle mich auf fragwürdigem Gebiet, wenn ich mich ans Musik schreiben mache, nichts scheint mir gesichert & alle Möglichkeiten reichen nicht, sind abgebraucht, etc.

Erst nachdem ich mich, wie Alice, durch die Engpässe des Tonsatzes, der ästhetischen Entscheidungen & Korrekturen heikler Übergänge gequält habe, endlich mit der Reinschrift beginne, empfinde ich vorsichtig Genugtuung & Hoffnung. Glücklich macht mich die Zeit der Proben: alle Mitwirkenden arbeiten am Gelingen & meine Musik hat ihren Teil daran. Je öfter ich sie höre, desto besser gefällt sie mir! Mehr weiß ich über meine Musik nicht zu sagen.

Wie ich wohl nach der Premiere darüber denke?

Alice - Eine phantastische Revue - Generalprobe. Kristine Tornquist. Kristine Tornquist, 1965 in Graz geboren, ist Regisseurin und Librettistin, Autorin, Künstlerin. Sie ist Gründerin der Künstlergruppe 31. Mai, des Theaters am Sofa und des sirene Operntheaters. (Foto Hedi Grager)
Alice – Eine phantastische Revue – Generalprobe. Kristine Tornquist. Kristine Tornquist, 1965 in Graz geboren, ist Regisseurin und Librettistin, Autorin, Künstlerin. Sie ist Gründerin der Künstlergruppe 31. Mai, des Theaters am Sofa und des sirene Operntheaters. (Foto Hedi Grager)

Kristine Tornquist, Regisseurin und Librettistin, Autorin, Künstlerin
Mit 10 Jahren habe ich Alice im Wunderland genau verstanden – als ein Buch, das Kinder nicht unterschätzt, sondern sich auf ihrem wahren intellektuellen Niveau mit ihnen gegen die ewig besser wissenden und immer Recht haben wollenden Erwachsenen verbündet. Denn auch wenn all die seltsamen Wunderlinge im Wunderland die Wortgefechte selbstgewiss für sich entscheiden  können, bleiben der Hausverstand und die Logik doch eindeutig auf der Seite der kindlichen Heldin.

Als ich nun das Buch in der Überlegung, eine Oper daraus zu machen, erneut las, fiel mir die undurchsichtige Rolle des Autors auf. Lewis Carroll steht auf der Seite seiner Heldin, bemüht sich, sie zu überraschen und zu unterhalten. Aber zugleich ist er auch ihr Widersacher, er treibt sie wehrlos in unangenehme Begegnungen, er lässt sie an sich selbst zweifeln, bringt sie zum Weinen, besiegt sie in Diskussionen mit unlauteren Mitteln, verwirrt und beschämt sie. Natürlich entspricht das dem üblichen Vergnügen jedes Autors, alle seine widersprüchlichen Figuren gleichzeitig imaginieren zu können – die Dummen wie die Klugen, die Gutgelaunten wie die Tragischen, die Miesen wie die moralisch Überlegenen – doch bei Alice in Wonderland (1865) handelt es sich um den Sonderfall, dass die Heldin und die erste adressierte Leserin identisch sind und somit die fiktiven Übergriffe auf die Figur Alice gewissermassen auch persönlich und in wirklichen Leben von Alice Liddell stattfanden. Zumal der 20 Jahre ältere Reverend Charles Lutwidge Dodgson, wie der Autor mit bürgerlichem Namen hiess, seine kindliche Heldin mit Ereignissen konfrontierte, die sie nicht durchschauen konnte, etwa psychedelische Drogenerfahrungen und Pubertätskrisen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er es auch genoss, die Leserin Alice wie die Figur Alice zu manipulieren und zu dominieren, auch wenn er sie zuletzt als Siegerin hervorgehen lässt, indem er sie aus dem Traum bzw. aus dem Buch aufwachen lässt. Im zweiten Band Through the Looking-Glass (1871), den er nach dem Bruch mit der Familie Liddell schrieb, wird das noch offensichtlicher. Kein Wunder, dass sich Heerscharen von Psychologen und Literaturwissenschaftern über die Deutung dieser Konstellation hergemacht haben!

Wie jeder gute Mythos und jedes vielerzählte Märchen ist die Alice-Erzählung somit zwiespältig und deutungsoffen und als eines der meist zitierten und dramatisierten Werke britischer Literatur zu kulturellem Allgemeingut mutiert. Figuren wie die Grinsekatze, der Hutmacher, das weisse Kaninchen und die rauchende Raupe haben ein Eigenleben entwickelt und sich in Hollywood von ihrem Ursprung weit entfernt. Jüngere Leute kennen heute eher die brachiale Verfilmung durch Tim Burton (2008) als die raffinierten Sprachphantastereien des Originals. Ich schrieb eine erste deutsche Librettofassung als Diskussionsgrundlage, um Max Kaufmann und Kurt Schwertsik zu gewinnen. Dabei stieß ich schon auf die Schwierigkeiten der Übersetzung, der Douglas Hofstadter in seinem berühmten Buch Gödel Escher Bach ein ganzes Kapitel widmete. Die Wortspiele, Fantasieworte und Bedeutungsreferenzen sind so diffizil in der semantischen Kultur  der 19. Jahrhunderts in England rückgekoppelt, dass eine Übertragung nicht durch einfaches Übersetzen der Sprache gelingen kann, sondern in die jeweilige Kultur übersetzt werden muss. So war es so logisch wie vernünftig, dass Kurt Schwertsik und ich uns schon bei unserer ersten Besprechung einig wurden, ausschliesslich den englischen Originaltext einzusetzen, wenn auch in unserer Auswahl und Interpretation. Und schon waren wir im Wonderland angekommen: Bei der Arbeit am Libretto ging es fast so zu wie in Through the Looking-Glass. Je langsamer man im Reich der Schwarzen Königin vorwärts geht, umso schneller kommt man voran beziehungsweise umgekehrt. Meine Arbeit bestand vor allem darin zu kürzen, und je ausführlicher ich kürzte, umso mehr wuchs die Partitur. Eine wunderbare Arbeitsteilung!

Alice - Eine phantastische Revue - Generalprobe. (Foto Hedi Grager)
Alice – Eine phantastische Revue – Generalprobe. (Foto Hedi Grager)

So wurde es letztlich auch keine Oper, sondern eine Revue für die unterschiedlichen Figuren, was Lewis Carroll sicher gefallen hätte. Als Jugendliche hörte ich heimlich nachts unter der Bettdecke gerne Radio und stiess dabei erstmals auf eine bezaubernde Musik von Kurt Schwertsik – ich weiss leider bis heute nicht, was das gewesen sein kann. Damit begann für mich, bis dahin ganz der Alten Musik (und Punk) verschrieben, die Neue Musik. Hier fand ich das missing link. Ein Spagat, der viel überbrückte. Aufregende Harmonien und Linien, die überraschende Wendungen nahmen und doch ganz logisch erschienen. Eine Musik, die berührt, aber den Verstand nicht im Dampfbad der Emotionen auflöst. Eine kluge Musik, die lächelnd zu sagen scheint: Nimm mich nicht zu ernst. Auch wenn Kurt in Darmstadt sozialisiert wurde und im Nachkriegswien mit seinen Freunden die stehengebliebene Zeit gehörig und auch ungehörig ankurbelte, war er mutig genug, früh an den Dogmen der Moderne zu zweifeln und in einem kühnen Mutationsakt Jahrzehnte zu überspringen – wie man heute weiss: nicht rückwärts, sondern vorwärts! Was mich damals faszinierte,  fühle ich heute noch: seine Musik verbindet Schönheit mit Witz, eine äusserst seltene und umso berückendere und lebensnahe Symbiose. Den Menschen habe ich erst viel später kennengelernt und er passte perfekt zu seiner Musik. Hoher Anspruch verrät sich in Bescheidenheit. Wer hätte auch je das höchste Ziel erreicht? So kommt es wohl, dass Kurt Schwertsik nicht nur ein grosses Talent für kleine Formen und subtile Interventionen hat, sondern auch für die grosse Kunst des Zweifels, dem besten Motor lebenslanger Weiterentwicklung. Das durfte ich in der intensiven Zeit der Vorbereitung erleben: nichts ist selbstverständlich, alles muss von Grund auf gedacht und revidiert werden – und zwar nicht in einem umstürzlerischen, blinden Gewaltakt, sondern in liebevoller Vertiefung. Schliesslich ist Musik kein autokratisches System, sondern die Gnade, etwas von der Natur des Hörens zu verstehen.

Alice - Eine phantastische Revue - Generalprobe. (Foto Hedi Grager)
Alice – Eine phantastische Revue – Generalprobe. (Foto Hedi Grager)

Kurt beschrieb es so, wie ich selbst es auch empfinde: ein Kunstwerk lässt sich nicht planen, die Kunst ist, sich in den wachen Zustand zu versetzen, in dem sie entstehen kann – und dann fließt die Musik direkt in den festumklammerten Stift, der wie eine Antenne oder ein Blitzableiter das musikalische Wetter anzieht und aufs Papier fließen lässt. Und der wache Zustand, wo kommt der her? Aus einer unerschöpflichen Neugier auf das Leben und die Kunst. Bei unseren Gesprächen schwirrten mir die Ohren von den vielen guten Tipps, den Geschichten, den Namen, den Bedeutungen. Ich notierte mit und sass dann nach jedem Treffen oder Telefonat lange am Nachlesen, vor einem Film, einem Buch, einer Komposition. Ein hervorragender Lehrer also, aber nicht durch Belehrung. Und darin wiederum gleicht er Lewis Carroll!

Imagination is the only weapon in the war with reality, lässt Lewis Carroll seine liebenswertese Figur, die Cheshire Cat, sagen. So herum, aber auch umgekehrt formuliert ist das ein guter Rat fürs Leben!

From the Duchess to the King! 
wären Eure Majestät vielleicht amused, eine Fermate auf der letzten Pause zu placieren? 
Unsere Boten könnten dann mit Pomp & Circumstances verschwinden – vor dem grossen Auftritt der Cheshire Cat.
Knicks, duchess kristine

Um meinen letzten Einfall zu vertiefen: wie wärs, wenn die Boten eine Flasche öffneten & einander zuprosteten „from the Queen“, „to the Duchess“ & schließlich betrunken davon wankten? Mit oder ohne Fermate! (wer weiß, ob sich im Parlament dafür eine Mehrheit  findet?) >Scheißdemokratie!< 
Verzeihung Durchlaucht, frog

Großes Beitragsfoto: Alice – Eine phantastische Revue – Generalprobe. (Foto Hedi Grager)

www.wienmodern.at   
www.odeon-theater.at  

 

 

 

Share Button

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*